Text:Sophie Haemmerli-Marti/Mis Chindli/Vorwort
Vorwort
Ohne Frage ist die neuhochdeutsche Schriftsprache gegenwärtig bestrebt, sich ein höheres Mass von Einheitlichkeit, weltmännischem Schliff und Geschmeidigkeit anzueignen. Es versteht sich das aus der in den politischen Verhältnissen liegenden Anforderung an sie, womöglich nicht bloss, wie bisher, eine Sprache für Dichter und Denker zu sein, sondern eine solche für den Weltverkehr zu werden. Sie sucht nachzuholen, was ihr das französische Idiom seit den Zeiten Richelieus vorgetan hat und was vor mehr als hundert Jahren die Gottschede und Wielande nur beginnen, unmöglich auch schon vollenden konnten.
Die Berechtigung solcher Bestrebungen bestreiten, hiesse die Gegenwart gründlich missverstehen. Aber an derselben Gegenwart auf französischem Gebiete, wo umgekehrt die Sprache ihr höfisches Gewand jetzt abzustreifen trachtet, können wir auch lernen, dass die Richtung auf Glätte, Salonfähigkeit, Witz und Glanz des Ausdrucks ihre Gefahren birgt und zur Einseitigkeit führt. Die deutsche Sprache hat viel zu viel Anlage für Innerlichkeit, Natürlichkeit und Eigenart, als dass sie ohne Schaden für das, was den Kern ihres Wesens und ihren Beruf ausmacht, es vertrüge, nur in jener Richtung gefördert zu werden. Zu Gottscheds Zeiten traten Schweizer jener Gefahr entgegen, und die besten literarischen Kräfte ihres Zeitalters scharten sich um sie. Auch heute dürfte es vor allem wieder die Aufgabe der deutschen Schweiz sein, der hochdeutschen Sprache Charakterfestigkeit, schlicht treuherziges Wesen und gemütliche Innigkeit in der Farbengebung der Stammesart zu wahren. Die Kraft zu solcher Mission schöpft die Schweiz allezeit aus ihrer kerngesunden Entwicklung und deren Spiegelbild, ihrer Mundart. Diese echt und selbständig erhalten, heisst daher auch, dem wohlverstandenen Interesse des Hochdeutschen dienen, und darf nicht als eine diesem feindselige Bewegung missdeutet werden, auch wenn die Gegensätzlichkeit zu andern Bestrebungen nicht immer zu vermeiden sein sollte.
Ich habe in einem Vortrage zunächst zu Handen der aargauischen Lehrerschaft [Fußnote] diesen Ge-danken unlängst Ausdruck gegeben. Dadurch auf die tiefere Bedeutung ihres stillen, fast heimlichen Schaffens [Fußnote] aufmerksam gemacht, hat die mir vorher unbekannte Verfasserin des vorliegenden Zyklus von mundartlichen Liedern sich an mich gewandt und ihn meinem Urteil unterbreitet. Ich stehe nicht an, hier öffentlich zu sagen, dass diese kleinen humorvollen Gedichte mir geeignet erscheinen, jenem höhern Gedanken in ihrer Art vorzüglich zu dienen. Wir haben eine reiche mundartliche Literatur, aber gerade deren poetischer Teil leidet durchweg sehr an zu starker Anlehnung ans Schriftdeutsche. Unsere mundartlichen Dichter vergreifen sich meist im Stoff, in Stil und Diktion und in der Versifikation. Es ist schwer, gut mundartlich zu schreiben, doppelt schwer in gebundener Form. Diese schwierige Aufgabe hat unsere Verfasserin meines Erachtens gut gelöst. Ich zweifle nicht, dass zahlreiche junge Mütter in dieser eigenartigen und treffenden Schilderung eines Mutterglücks mit Genugtuung ihre innersten und heimseligsten Empfindungen wiedererkennen werden. Und solchen Gebieten der Seelenwelt als Organ zu dienen, das ist die ureigenste Aufgabe der Mundart, unsrer schweizer-deutschen Mundart weit vor allen anderen. Denn sie hat viel südliches Blut in sich, und dieses südliche Blut empfindet – man sage dagegen, was man sagen mag – feinsinniger, schalkhafter und graziöser in allem, was das Gefühlsleben angeht. Wer daran zweifelt, vergleiche doch einmal die Texte der Kinder-, Tanz- und Volkslieder Süddeutschlands und der Schweiz mit denen Norddeutschlands! –
Hier ist also gerade der Punkt, wo wir einzusetzen haben, um die Virtuosität unsrer Mundart zur Geltung zu bringen und – indirekt auch dem Hochdeutschen zu nützen. Unsre Mütter sind ja in erster Linie die Hüterinnen unsrer «Muttersprache», das heisst in der Schweiz unsres Idioms. Mögen dieselben an der hiemit gebotenen Gabe auch für ihren sprachlichgeschichtlichen Beruf Anregung und Stärkung gewinnen!
Aarau, im November 1896
Dr. J. Winteler